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KEIN ENDE DES MITTELALTERS?

Keynote Lecture von Reinhold Glei beim Mittellatein-Kongress in Nürnberg

Reinhold Glei (Klassische Philologie/CERES) hat auf dem vom 25. bis 28. September 2024 in Nürnberg veranstalteten Internationalen Mittellatein-Kongress eine Keynote Lecture gehalten. Der vom Lehrstuhl für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit (Prof. Dr. Michele Ferrari) an der Universität Erlangen-Nürnberg ausgerichtete Kongress stand unter dem Thema „Epos im lateinischen Abendland (4.-15. Jahrhundert)“ und beleuchtete die Geschichte und die verschiedenen Ausformungen epischer Dichtungen im Mittelalter.

In seinem Vortrag „Jerusalem und Konstantinopel: Epik an der Zeitenwende“ untersuchte Reinhold Glei die Konstruktion von Zeitenwenden anlässlich globaler (oder als global verstandener) Verschiebungen von Machtverhältnissen und deren Reflexion in epischer Dichtung. Er stellte zwei Beispiele von Zeitenwende-Epen vor, die paradigmatisch für den Umgang mit historischen und religiösen Konstruktionen stehen können.
Es handelt sich um epische Gedichte über die Eroberung Konstantinopels (1453 CE) bzw. Jerusalems (70 CE), die aus dem späten 15. Jahrhundert stammen. Beide Ereignisse wurden als Zeitenwenden empfunden bzw. als solche deklariert, weil sie neben der militärischen und politischen Dimension auch eine eminent religiöse Dimension aufweisen: Sie stehen für grundlegende Zäsuren im Verhältnis zwischen Christentum und Judentum bzw. Islam, deren Folgen heute mehr denn ja spürbar sind.

Der piemontesische Kleriker Pietro Apollonio Collazio (ca. 1430-1500) griff in seinem Epos das spätantik-mittelalterliche Narrativ auf, wonach die Eroberung Jerusalems und Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahr 70 die göttliche Strafe für die Ermordung Jesu gewesen sei – eine Behauptung, die über Jahrhunderte die christliche Haltung zum Judentum bestimmte. Ganz ähnlich, wenn auch mit anderen Vorzeichen, interpretierte der aus einer humanistischen Gelehrtenfamilie stammende Gianmario Filelfo (1426-1480) die Eroberung Konstantinopels durch den osmanischen Sultan Mehmet II. Fatih als Rache an den Griechen für die Eroberung Trojas, weil die Turchi (Türken) Nachfahren der Teucri (Trojaner) seien. In dieser Logik erweist sich dann auch der Machtanspruch des Islam als unaufhaltsame Konsequenz antiker Ereignisse.

Die vielbeschworene Zeitenwende vom Mittelalter zur Renaissance, so Gleis Fazit, findet in der epischen Dichtung jedenfalls nicht statt: Während sich mit dem 15. Jahrhundert in den Wissenschaften tatsächlich eine Wende vom teleologischen zum kausal-deterministischen Weltbild abzeichnet, werden die mittelalterlichen Narrative einer von der göttlichen Vorsehung bestimmten Geschichte mindestens bis zur Aufklärung weiter fortgeschrieben.

Programm des Mittellatein-Kongresses 2024: https://static.ceres.rub.de/media/filer_public/4a/7d/4a7d5a80-f5f9-41f7-b3a4-8cc97cf0ce14/poster-724x1024.jpg