„Entkopplung von der Welt“: Jens Schlieter über die Transzendenz der Fahrzeugfahrt
Prof. Dr. Jens Schlieter ist Außerordentlicher Professor für systematische Religionswissenschaft an der Universität Bern und forscht unter anderem zur Theorie religiöser Sprache und Sprachphilosophie in religiösen Traditionen. Im November und Januar war er zu Gast im SFB.
Prof. Schlieter, in Ihrem Gastvortrag haben Sie über die Fahrzeugfahrt als eine Art Leitmetapher der Reise von Immanenz zu Transzendenz und wieder zurück gesprochen. Was hat die Fahrzeugfahrt, das andere Fortbewegungsarten nicht haben?
Wichtig ist zu unterscheiden, dass ich mich in diesem Fall erst einmal auf Landfahrzeuge und nicht so sehr auf die Seefahrt beziehe, obwohl diese Metaphorik auch sehr bekannt ist: der Aufbruch ins Unbekannte, zu neuen Ufern, neue Kontinente etc. Aber auch die Landfahrzeug-Fahrt, damals mit dem schnellen Streitwagen, ist in religiösen Traditionen sehr wichtig, um zu demonstrieren, wie man von einem Ausgangsort zu einem Ziel kommt, und das möglichst unter Abkopplung vom Ursprungsort. Die Fahrt ist so etwas wie eine Transformation. Man selbst verändert sich während der Fahrt, um am Ziel angekommen jemand anders zu sein.
Wieso sind Ihrer Meinung nach neue Technologien – wie beispielsweise seinerzeit das schnelle Pferdegespann – so produktiv im Hinblick auf Metaphern?
Der Streitwagen war in der antiken Welt eine der komplexesten Technologien, die verfügbar waren. Es gab natürlich Töpferscheiben, es gab Wasser-Regulationssysteme und auch Türflügel, die sich an Angeln drehen. Aber in dem schnellen Pferdegespann sind da einerseits die Pferde, die gesteuert werden müssen, aber auch ihren eigenen Willen haben, und über die Zügel und die Leitseile verbunden sind mit dem, der den Wagen fährt. Und andererseits ist da natürlich das technische Artefakt des Streitwagens, also ein Wagenkasten mit Rädern, Achse usw. Alles störanfällig, alles zwar gemacht für hohe Geschwindigkeiten, aber immer auch mit dem Risiko zu versagen und einen Unfall zu provozieren, die in der antiken Welt oft auch tödlich waren. Neben dem Fahrer selbst gab es dann auch Beifahrer, die häufig adligen Standes waren und eben nicht selbst steuerten, sondern sich in einer idealen Beobachtungsposition befunden haben und von einer erhobenen Plattform auf die Welt herunterschauten. Insofern ist es kein Wunder, dass der Streitwagen in religiösen Traditionen so eine Bedeutung hat.
Welche Beispiele können Sie nennen?
Eine der Quellen ist beispielsweise Parmenides‘ Proömium, wo der Philosoph an den Ort der Wahrheit gefahren wird, um von einer Göttin unterwiesen zu werden und als Beifahrer in diesem Wagen so etwas wie eine Initiation erfährt. Oder ein anderes Beispiel ist der werdende Buddha, der durch seinen Wagenlenker auf einem Wagen aus dem Palast herausgefahren wird. Vorher hat er nur in diesem geschützten Palast gelebt. Indem er herauskommt und erstmals einem Kranken, einem Alten, einem Toten begegnet, wird er konfrontiert mit der Welt. Und das geschieht alles von der Wagenplattform aus. Ein weiteres Beispiel aus Indien ist die Bhagavad Gita, ein philosophischer Diskurs, wo Arjuna durch seinen Wagenlenker Krishna, also eine Gottheit, belehrt wird. Und diese gesamte Belehrung findet auf der Wagenplattform statt, während zwei Heere einander gegenüberstehen und in der Mitte dieses Schlachtfeldes ist der Wagen.
Und welche Bedeutung hat der Wagen in diesen Kontexten?
Bisher hat man den Wagen immer nur als aristokratisches Herrschaftssymbol gelesen, oder man hat ihn als Kampffahrzeug betrachtet, als sportliches Instrument usw. Dabei fällt auf, dass der Wagen auch zur Illustration dessen dient, was die Seele ist. Der Wagen wird in verschiedensten Traditionen, vom Buddhismus bis zu den Hindutraditionen, aber auch in der griechischen Religion in eins gesetzt mit der Seele selbst, die durch den Zwischenraum zwischen Himmel und Erde fliegt und dann an einen jenseitigen Ort kommt, wo die Pferde abgespannt werden, Ambrosia trinken und die Person, die den Wagen fährt, an einem Ort der Befreiung angekommen ist. An diesem jenseitigen Ort ist man dann letztendlich in einem himmlischen Paradies. Aber warum gerade der Wagen? Weil er eben schnell ist. Das schnellste Fahrzeug, das man hatte, fast schon fliegend, völlig entkoppelt von der Umgebungswelt, im Gegensatz zu einem langsamen Karren, von dem man abspringt und auf den man wieder aufsteigen kann.
Spielt es eine Rolle, dass man entkoppelt ist und nur beobachtet, aber nicht in direkte Interaktion tritt?
Genau diese Entkopplung ist interessant. Das Gespräch findet zwischen Wagenlenker und dem werdenden Buddha statt. Der Buddha fragt: „Wer ist das? Was ist das? Hab ich noch nie gesehen.“ Und der Wagenlenker sagt: „Das ist ein alter Mensch, der wird bald sterben.“ Und dann fragt der Buddha seinen Wagenlenker, nicht den alten Menschen: „Wird mir dieses Schicksal auch vorbestimmt sein? Werde ich auch sterben?“ „Aber selbstverständlich wirst auch du sterben.“ Und dann sagt der Buddha: „Ich will hier nichts mehr sehen. Dreh den Wagen um und fahr zurück in den Palast.“ Insofern ist der Wagen vielleicht gerade deswegen auch für das Auseinanderdriften von Immanenz und Transzendenz so geeignet, weil man eben sehr schnell an einem unbekannten Ort ist, Menschen begegnet, die sich dort aufhalten, aber genauso schnell auch wieder weg sein kann. Gerade diese Entkopplung sowohl in Bezug auf Räumlichkeit als auch auf Zeitlichkeit ist spannend, denn die Zeit derjenigen, die da vor Ort sind, ist eine andere. Diejenigen mit dem Wagen haben ihre eigene Zeit, sie bringen ihre eigene Zeit mit. Das ist natürlich nur metaphorisch auszudrücken.
Im Vortrag haben Sie vor allem Bezug genommen auf antike indische und griechische Texte. Gibt es denn auch moderne Beispiele?
Sicherlich gibt es viele Beispiele, wo an diese antike Wagentradition angeknüpft wird. Beispielsweise den Roman Ben Hur von Lewis Wallace. Der ist mehrfach verfilmt worden und die berühmteste Verfilmung ist eine aus den 50er-Jahren von William Wyler mit Charlton Heston. Quasi der Höhepunkt dieses Films ist ein Wagenrennen in einem Circus Maximus, bei dem die beiden Hauptcharaktere gegeneinander antreten. In einem unfairen Duell, muss man allerdings sagen. Und natürlich sind die Pferde des Protagonisten weiß, die des Gegenspielers schwarz. Diese Metaphorik, die rassistische Momente hat, ist auch schon uralt. Beispielsweise ist im Seelenwagen-Gleichnis in Platons Phaidros das schwarze Pferd dasjenige, was zur Erde drängt, das die Begierden verkörpert, während das weiße Pferd den rationalen Seelenanteil verkörpert und in die Welt der Befreiung hinaus will. Und das weiße Pferd hört auf Zuspruch und ist der Sprache mächtig. Das schwarze Pferd versteht nur die Peitsche.
Ben Hur liegt ja nun auch schon 70 Jahre zurück …
Das Motiv des Wagenrennens ist beispielsweise auch aufgenommen worden in den Star Wars-Filmen, wo dann anstelle von Pferden Düsentriebwerke, die an Leitseilen hängen, ein über dem Boden schwebendes Gefährt, das einem Wagenkasten ähnelt, hinter sich herziehen. Diese gesamte Szenerie erinnert sehr stark an die Wagenrennen in der antiken Welt. Man sieht, wie unter jubelnder Anteilnahme von Zuschauern in Rängen losgefahren wird. Oder vielmehr losgeflogen wird. Aber diese Grundidee des Steuerns, des Überfordertseins, der Interaktion zwischen den verschiedenen Teilnehmern, die das Wettrennen bestreiten, die ist sicher sehr ähnlich.
Dieses Entrücktsein, gerade als Beifahrer*in, kennt man ja auch persönlich.
Ja. Es ist auch argumentiert worden, dass beispielsweise die nächtliche Autobahnfahrt für viele Menschen eine Situation ist, in der sie auch religiöse oder kontemplative Erfahrungen machen können. Der Körper ist eingebunden in den Steuerungsprozess, das Ziel ist eigentlich vorgegeben. Gleichzeitig ist es eine bestimmte Form der Monotonie, auch die Geräusche bleiben relativ gleich, Motorgeräusche, Fahrgeräusche, Windgeräusche usw. Aber man ist in einem geschützten Raum und kann sich gerade deswegen mit dem befassen, was üblicherweise vielleicht außen vor bleibt, weil man weiß, man hat viele Stunden Zeit. Und tatsächlich gibt es auch Gedichte in der modernen Literatur, die diese Autobahnmeditation thematisieren. Und man könnte schon sagen, dass uns gerade deswegen das Fahrzeug als solches noch nahe geblieben ist. Natürlich nicht im alltäglichen Verkehrsstau zur Arbeit. Es müssen andere Rahmenbedingungen sein, aber im Hinblick auf das Entrücktsein, glaube ich, hat sich das nicht wesentlich geändert. Vielleicht werden diese Transzendenzerwartungen jetzt eher verlagert in die Möglichkeit von Raumschiffen und interplanetaren Reisen, sodass die Erwartungshaltung gegenüber dieser Fahrt von der Erde, die jetzt bekannt ist, übertragen wird auf andere Galaxien. In der antiken Welt war die Fahrzeugfahrt schon noch eine Form von Aufbruch ins Unbekannte, denn nach mehreren Tagen Wagenfahrt war man schon in einer Welt, die die allermeisten noch nie zuvor gesehen hatten. Das ist in einer durch Straßen erschlossenen Welt jetzt natürlich nicht mehr auf die gleiche Weise der Fall.
Wie sehen Sie als Religionswissenschaftler die Bedeutung eines Sonderforschungsbereichs, der sich mit Religion und Metapher befasst?
Ich bin, um das vorweg zu sagen, absolut begeistert von diesem Sonderforschungsbereich und von den verschiedenen Arbeitsgruppen. Für Metaphern interessiere ich mich tatsächlich schon seit über zehn Jahren. Meinen ersten Aufsatz zur Metapherntheorie und Religion habe ich über die Metaphorik des Karma geschrieben. In frühen indisch-buddhistischen Texten wird Karma mit den Metaphern des Pflanzenwachstums beschrieben, also Unkraut oder Pflanzen, die Früchte tragen, während europäische Interpreten, vor allem protestantisch Interessierte, behauptet haben, die Vorstellung des Karma sei ja nichts anderes als eine Mechanik des himmlischen Kontos, wo man Schulden bezahlt, also Schulden, die man vorher gemacht hatte, mit guten Taten begleichen kann. Und das ist ein großes Missverständnis, weil Karma in Indien nicht auf diese Weise funktioniert. Positives Karma und negatives verhalten sich nicht wie Geld. Karma ist kein Tauschmedium, das sich gegenseitig aufhebt, sondern beides bleibt bestehen. Positives wirkt sich aus, Negatives wirkt sich aus. Und diese altindische Vorstellung habe ich damals mit der kognitiven Metapherntheorie untersucht.
Vor zehn, fünfzehn Jahren gab es schon einige, die sich damit befasst haben, aber nur wenige in der Religionsforschung, vor allem nicht unter systematischen Gesichtspunkten. Insofern füllt dieser Sonderforschungsbereich meines Erachtens absolut ein Desiderat, um ganz grundsätzlich zu belegen, wie Metaphern am Entstehungsprozess der religiösen Semantik beteiligt waren und beteiligt sind. Dass sie offenbar essenziell sind, kann man an der Reichhaltigkeit der Metaphern sehen. Und wenn die Erstellung eines Repositoriums religiös verwendeter Metaphern jetzt in Angriff genommen wird, ist das eine fantastische Möglichkeit, um all die Metaphorik, die so essenziell und unhintergehbar ist, genauer zu untersuchen. Auf der anderen Seite zielt das Projekt ja auch darauf ab, die Theoriebildung weiterzubringen, indem es verbunden wird mit Systemtheorie, mit Peircescher Semiotik, oder eben mit anderen linguistischen oder kognitiven Theorien. Das halte ich alles für extrem vielversprechend. Man kann sich nur auf die Ergebnisse freuen.